Auftragsarbeit für Zeitlupe: Franz Hohler

 

«Literatur ist eine Lebenshilfe»

 

 

Zu normalen Zeiten reist Franz Hohler gerne mit Notizbock und Bleistift im Gepäck durch die Welt und lässt sich von Land und Leuten zu seinen klugen Geschichten inspirieren. Im Interview spricht der 77-Jährige über seinen ausserordentlichen Aufenthalt in Zürich Oerlikon, über Umgebungssafaris mit Sonnenaufgängen und Einkaufen nach Lustprinzip.

 

Ihr aktuelles Buch heisst «Fahrplanmässiger Aufenthalt». Wir alle hatten in den letzten Wochen coronabedingt einen längeren, ausserordentlichen Aufenthalt. Wie ging es Ihnen dabei?

Abgesehen von den tragischen Umständen, die ich rund um mich sah, war es eine wohltuende Zeit. Die allgemeine Verlangsamung tat mir gut. Ich hätte von März bis Mai etwa 25 Veranstaltungen gehabt. Mit einem Schlag fielen alle Termine weg, plötzlich war meine Agenda leer. Ich sass in meinem Arbeitszimmer in Zürich Oerlikon und dachte: «Ich glaub jetzt bin ich pensioniert!»

Ich bin 77 Jahre alt, in meinem Alter ist sowieso jede Abmachung, die man längerfristig trifft, mit einem leichten Fragezeichen verbunden. Mit der Frage, ob es einen zum abgemachten Zeitpunkt überhaupt noch gibt, oder ob man dann nicht mit irgendeiner Altersscheusslichkeit darniederliegt. Corona macht uns die Vorläufigkeit unserer Existenz wieder mehr bewusst. Wir sind so an den Taktfahrplan unseres Alltags und an unsere Rituale, wie beispielsweise die Sportsendung am Sonntagabend, gewöhnt. Es ist gar nicht schlecht, wenn das alles mal wieder in Frage gestellt wird.

 

Sie konnten die Entschleunigung geniessen. Hat Corona an anderer Stelle aber auch Ihre Lebensqualität eingeschränkt?

Ja. Unsere Nachbarn haben sich sofort anerboten, für meine Frau und mich einzukaufen. Das war sehr schön, aber gleichzeitig war es auch eine kleine Entmündigung. Ich bin jemand, der gerne nach dem Lustprinzip einkauft. So kaufe ich häufig Dinge, die nicht auf der Einkaufsliste stehen. Wenn ich zufällig an einem schönen Kohlrabi vorbeikomme, nehme ich ihn mit. Oder ich gab meinen Nachbarn einen bestimmten Auftrag und das betreffende Lebensmittel gab es dann nicht mehr im Laden zu kaufen. Was im Lockdown nicht selten vorkam. Im schlechtesten Fall kauften dann die Nachbarn eine Alternative, die ich nicht besonders gerne esse. Ich betrachte die Pandemie als eine Aufforderung an uns alle, im Alter möglichst viel an Autonomie zu behalten. Durch Corona musste ich ein Stück dieser Autonomie aufgeben, das fiel mir nicht leicht. Aber ich machte es aus Vernunft.

 

Auch das Reisen fiel Corona zum Opfer. Reisen und Schreiben sind bei Ihnen eng verbunden. Vermissen Sie es, dass Sie im Moment nicht so einfach in einen Fernzug oder ins Flugzeug steigen können?

Ich bin nicht jemand, der unbedingt weit reisen muss. Wenn sich das Reisen ins Ausland ergibt, tue ich es sehr gerne. Aber genauso gerne unternehme ich Umgebungssafaris, die direkt vor meiner Haustüre beginnen. Während des Lockdowns spazierten meine Frau und ich jeden Sonntag auf dem Käferberg, um uns den Sonnenaufgang anzuschauen. Am frühen Morgen durch das leere Quartier zu flanieren, war wunderschön. Dabei kamen wir immer an der grossen Plakatsäule mit der Aufforderung «Bleiben Sie zuhause. Bitte. Alle.» vorbei. Wir fühlten uns schon halb in der Illegalität. (lacht).

Meine Eltern konnten während des Zweiten Weltkrieges sechs Jahre lang nicht verreisen. Sechs Jahre war die Schweiz zu. Zu! Damals war keine Rede davon, in Rimini zu baden oder in die Provence wandern zu gehen. Und wir hatten nun zwei Monate kein Rom oder Paris. Das ist doch Jammern auf sehr hohem Niveau.

 

Ich habe gelesen, dass Sie bereits als Bub Schriftsteller werden wollten. Warum hegten Sie gerade diesen Traum?

Als Kind wollte ich Zugführer, Busfahrer und Profifussballer werden. Aber ich war schon sehr früh fasziniert von der Literatur, weil sich durch blosse Buchstaben Türen zu den verschiedensten Welten öffnen lassen. Ich schrieb bereits als Kind Gedichte und kleine Geschichten. Als Schüler schickte ich meine Kurzgeschichten dem Oltner Tagblatt und die Redaktion druckte die Texte auch tatsächlich. Das war eine wichtige Ermutigung für mich, dem Wunsch nachzugehen, mit und von meinen Ideen leben zu können. Dass mir dies tatsächlich gelungen ist, darüber freue ich mich immer noch sehr.

Fürs Schreiben ist man nie zu alt. Das merke ich auch immer an den Klassenzusammenkünften. Ich kann immer noch die Arbeit machen, die ich ein Leben lang machte. Das ist ein grosses Privileg. Hingegen mussten beispielsweise alle befreundeten Chefärzte mit 65 in Pension gehen. Egal wie engagiert und erfolgreich sie in ihren Berufen waren.

Ausserdem war und ist die Literatur für mich auch immer eine Lebenshilfe. Damit meine ich nicht die oft abgedroschenen Kalendersprüche. Gerade in der Corona-Zeit musste ich immer wieder an Hölderlins «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch» denken. Dieser Satz ist für mich wie ein Blitz vor dunklen Wolken.

 

Die letzte Kurzgeschichte in Ihrem Buch «Fahrplanmässiger Aufenthalt» heisst «Dichterleben». Dort kokettieren Sie unter anderem auch mit Ihrem berühmten Namen. Was würden Sie sich wünschen, dass man über Franz Hohler sagt?

Diesbezüglich habe ich keinen Wunsch. Ich halte es gut aus, wenn die Leute auch Negatives über mich sagen und schreiben. Auf meine Website stelle ich beispielsweise ausnahmslos nur die Verrisse meiner Werke. Es ist doch schön, wenn die Leute überhaupt etwas über einen zu sagen haben.